Auch 50 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts geht der Kampf für Gleichstellung weiter.
Vor Kurzem ging es in einer Teamsitzung der NGO, für die ich arbeite, um den Organisationsauftritt. Diskutiert wurde die Frage, wie sich Geschlechterdiversität in sprachliche Bilder umsetzen lässt und ob das Gendersternchen den geeigneten Weg zu diesem Ziel darstellt. Fazit der Diskussion: tut es nicht. Ein Instagram-Post der queer-
feministischen Schweizer Aktivistin und Publizistin Anna Rosenwasser bringt es vor einem blumigen rosaroten Hintergrund nüchtern auf den Punkt: «Wenn du ein Wort für Frauen suchst, das auch Transfrauen beinhaltet, dann empfehle ich dir ein Wort: Frauen.» Wer sich also selbst als Frau definiert, ist auch durch das Wort «Frau» gemeint. Sternchen sind da nur abwertender Anhang, also weglassen.
Alles anstrengender Genderwahnsinn? Im Gegenteil. Im Jubiläumsjahr des Frauenstimmrechts muss es auch um die Frage gehen, welche Bedeutung dieses Recht heute hat. Längst bewegt sich der gesellschaftliche Diskurs weg vom streng binären System aus Frau und Mann hin zu einer gendersensiblen Wahrnehmung, die offen ist für Vielfalt. Sprechen sollten wir also nicht nur über die massgebende Errungenschaft des Frauenstimm- und Wahlrechts, sondern auch über die tatsächlichen politischen Rechte aller Menschen, unabhängig davon, ob und inwiefern diese sich Geschlechterkategorien zuordnen. Zwar betreiben Unternehmen von Nestlé bis Novartis «Diversity-
washing», um ihr Image nach aussen hin aufzuhübschen. Nicht nur grün muss sie sein, die Corporate Identity, sondern auch vielfältig. Echte Teilhabe schliesst jedoch zwingend fundamentale Rechte ein, wie dasjenige auf Abstimmungsunterlagen und einen eigenen Listenplatz auf dem Wahlzettel.
Sprache als Spielplatz
Die Idee hinter dem Frauenwahlrecht war so simpel wie revolutionär: Nicht nur Männer sollen ihre politische Stimme erheben dürfen, sondern auch Frauen. Alles andere ist antidemokratisch, sexistisch und diskriminierend. Dass sich dieser Gedanke in der Schweiz Bahn gebrochen hat, ist gerade einmal unfassbar kurze 50 Jahre her. Genauso entrüstet, wie die konservativen Schweizer Männer damals auf die Forderung der Frauen nach politischer Gleichstellung reagierten, äussern sich Menschen heute in den Kommentarspalten der Online-Medien über den Versuch, jenseits binärer Geschlechterkategorien auf sprachlicher Ebene für Egalität zu sorgen. Von einer «Verhunzung» der deutschen Sprache ist da die Rede.
Aber, um es noch einmal mit Anna Rosenwasser zu sagen: Sprache ist kein Museum, sondern ein Spielplatz. Sprache schafft gesellschaftliche Realität, sie lässt Dinge erst denkbar, dann sagbar und am Ende machbar werden. Sie existiert nicht parallel zu politischen Massnahmen der Gleichstellung, sondern ist ihre Grundlage.
Das zeigt sich auch am Begriff des «Stimmbürgers» bzw. der «Stimmbürgerin». Längst nicht jeder Mensch, der in der Schweiz lebt, ist automatisch damit gemeint. Vielmehr verleiht das Substantiv einen beinahe elitären Status. Es schliesst jene Menschen ein, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben, den Schweizer Pass besitzen und nach Artikel 136 der Bundesverfassung «nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind». Das schliesst einen Grossteil der Bevölkerung aus. Vorstösse wie derjenige für das Stimmrechtalter 16 oder die parlamentarische Initiative der Grünen für ein Ausländer*innen-Stimmrecht versuchen, das zu ändern. Historische Bedeutung hat die Entscheidung des Kantons Genf aus dem Jahr 2020, auch Menschen, die aufgrund einer geistigen Behinderung unter umfassender Beistandschaft stehen, politische Rechte zuzugestehen – zumindest auf kommunaler und kantonaler Ebene. Dass Frauen heute abstimmen und sich selbst zur Wahl stellen dürfen, heisst also noch lange nicht, dass wir in der Demokratie angekommen sind. Zeit für Stimmbürger*innen mit Behinderung und Migrationsgeschichte.
Erschienen im Grünwärts Nr. 25, Mai 2021.
Anna Stahl, Mitglied Frauennetzwerk Region Basel